Von Sternenhimmeln und Midi-Dateien

»Digital Folklore – To computer users, with love and respect« von Olia Lialina und Dragan Espenschied (Ed.) beschäftigt sich so wie die gesamte Arbeit der Medien- bzw. Netzkünstler mit der Webkultur der 90er Jahre.

Olia Lialina nimmt sich der einzelnen Elemente an, die in den 90er Jahren populär und massenhaft im World Wide Web zu finden waren. Dazu gehören die Under Construction-Schilder, Sternenhimmel als Hintergründe, Freie Kollektionen von Webelementen, Links sowie Linksammlungen, Midi-Lieder, die noch heute im Ohr nachklingen, Frames, das Tilde-Zeichen, die »Welcome to my Homepage«-Seite sowie große »Mail Me«-Buttons.1 Das alles steht für die 90er: Das Web ist noch nicht alt, die Menschen in Aufbruchstimmung und es gibt noch die Utopie, dass es dort einen wirklich freien und geschützten Raum für alle gäbe.

Mein 90er-Web

Ich persönlich war begeistert vom Web der 90er. Ich war häufiger online, als ich es tatsächlich sein sollte. Verglichen zu heute war die monatliche AOL-Flatrate von 30 Stunden aber natürlich lachhaft. Mit 14 (2000) habe ich meine erste Webseite bei geocities online gestellt und es war toll mit ersten Gästebüchern oder Foren eine Online-Plattform für meine Klasse schaffen zu können. Nichtsdestotrotz waren mir die Anfänge damals natürlich nicht vollends klar. Wie für die meisten Menschen war das WWW ein großer Spielplatz für mich. Ich war enthusiastisch und habe das Internet geliebt. Dennoch war mir mit 13/14 Jahren natürlich nicht der kulturelle Wert bewusst. Ich musste keine alternativen Nischen für meine Kunst finden oder viele Denkweisen meines bisherigen Lebens überdenken. Ich wuchs im Internet auf und konnte es so sehr schnell als Normalität annehmen.
Obwohl ich diesen Hype nicht als erwachsener Mensch wahrgenommen habe, war ich ein kleiner Teil davon und spüre noch heute, dass das Web der 90er eine gewisse Anziehungskraft ausstrahlt. Vielleicht mag es nostalgisch sein, doch ich erinnere mich gern an erste Experimente mit Frames, an erste geklaute Bildchen, die man hochladen konnte oder den Klang der Midi-Sounds.

Always under construction

Das Web wuchs weiter und die Under Construction-Schilder wandelten sich in Sätze wie »Always under construction«. Das Zeichen für ständige Aktualität bis im Web 2.0 die Beta-Versionen zum Standard nicht vollendeter Versionen war.2
Dieser Wandel ist für mich ein Zeichen dafür, wie sehr wir noch in der Gutenberg-Welt leben. Das Internet stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da dessen Eigenschaft daraus besteht, dass es ständig anwächst. Ein fortlaufendes Wachstum, ein täglich wandelbarer Raum, der von dieser Veränderung lebt und der ohne dessen Aktualität beinahe unbedeutend für uns wäre. Wir nutzen das Medium nicht überwiegend aus dem Grund, festgeschriebene und vollständige Informationen abzurufen. Das mag wichtig sein beim Recherchieren und natürlich suchen wir häufig nach Informationen, die uns weiterhelfen. Natürlich nutzen wir das Web auch als Tool für Flugbuchungen und Restaurantbewertungen. Doch der tägliche Umgang besteht wohl darin, die Veränderungen – die Neuigkeiten – abzugreifen. Neue Nachrichten der Welt, neue Trends bei Twitter, neue Posts bei Facebook oder neue Trends in der Designwelt. Das dürfte zumindest aus meiner Sicht den Großteil ausmachen.

Ein Hinweis dafür, wie sehr wir noch in der Welt ohne Internet und Computer leben, gibt auch Olia Lialina. Sie wundert sich darüber, wie viele Präfixe es gibt, nur um klar zu machen, dass etwas mit dem Computer hergestellt wurde oder über ein Computer Interface angesteuert werden kann: Net, web, media, computer oder digital.3 Wir scheinen noch großen Wert darauf zu liegen, diese Auswüchse klar zu kennzeichnen. Welcher Sinn steckt hinter Pendants wie Buch-Erzählung oder Literatur-Story?
Zugegeben verwende ich selbst häufig Präfixe dieser Art. Es ist das Bedürfnis genau zu definieren, um was es sich handelt und eine Unterscheidung zu treffen. Dennoch bräuchte man diese Präfixe spätestens dann nicht mehr, wenn man sich schon im Web bewegt.

Digital Folklore

Das Buch »Digital Folklore« ist ein wertvolles Buch, welches sich lohnt zu lesen. Projekte von Studenten der Merz Akademie Stuttgart zeigen einen experimentellen Umgang mit dem World Wide Web, Texte über Internet-Trends wie z. B. Lolcats, geben einen Einblick in die Internet-Kultur und Olia Lialina kann mich mit ihren Recherchen und Analysen zu der Kultur der 90er Jahre ohnehin stets neu begeistern.

Quellen
  1. Vgl. Lialina, Olia; Espenschied, Dragan: »Digital Folklore«, Stuttgart 2009, S. 20–33.
  2. Vgl. Ebd., S. 20f.
  3. Vgl. Ebd., S. 9.