Paul Otlet – Pionier des Informationsmanagements

Otlets universale Bibliothek

Im Zuge meiner Nachforschungen hinsichtlich der Entwicklung des World Wide Webs stoße ich häufig auf den Namen Paul Otlet. An diversen Stellen wird er als Pionier des Informationsmanagements oder als Wegbereiter des Webs oder Google genannt. Alex Wright, amerikanischer Autor und Informationsarchitekt, spricht in seinem Vortrag »The Web That Wasn’t: Forgotten Forebears of the Internet« bei UX Brighton über Paul Otlet sowie diverse andere Vorreiter des Internets.

Otlets Organisationsstruktur intellektueller Arbeiten
Otlets Organisationsstruktur intellektueller Arbeiten

Die universelle Dezimalklassifikation

Der Belgier Otlet lebte von 1868 bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts und entwickelte seine Vision dementsprechend vor der Erfindung des ersten Computers. Ein zentraler Gedanke seiner Arbeit ist die systematische Anordnung, inhaltliche Verknüpfung und Darstellung menschlichen Wissens. Die bis dahin übliche Katalogisierung der Medien – weitestgehend Bücher – brachte ein großes Problem mit sich: Die Inhalte waren nicht ersichtlich. Das Ziel war also, ein System zu entwickeln, welches es zulässt, Inhalte zu extrahieren und sie auf intelligente Weise zu indexieren,1 um sie wiederum einfach verfügbar machen zu können. Basierend darauf entwickelt er zusammen mit Henri La Fontaine, beides Bibliothekare, die universelle Dezimalklassifikation, welches noch immer in fast ganz Europa von öffentlichen Bibliotheken verwendet wird2 und menschliches Wissen systematisch einteilt.

Wissen der Menschheit

Das bescheidene Ziel war es schließlich, das komplette Wissen der Menschheit seit Erfindung des Drucks zu sammeln und zu indexieren. Im Mundaneum war ab 1895 das »Institut International de Bibliographie« beheimatet,3 wo das Duo mit der Umsetzung dieser Vision begann. Die jahrzehntelange Arbeit wurde von der Regierung unterstützt und die Mitarbeiter versuchten absolut jede Information der Welt zu sammeln,4 um sie schließlich systematisch auf Karteikarten zu indexieren. Allein zwischen 1895 und dem 1. Weltkrieg entstanden so zehn Millionen Karteikarten,5 welche auch andere Medien wie Fotografien, Filme oder Audioaufnahmen mit einbezogen.6 Bis ins Jahr 1934 wurden mithilfe eines internationalen Netzwerks ganze 18 Millionen Karteikarten erstellt, welche innerhalb von Aktenschränken stolze 15.000 Zettelkästen füllten.7

Ab 1910 entstand das International Museum, das eher als Lehrinstitut als als Museum verstanden wurde. In 150 Räumen war Wissen thematisch sortiert aufbereitet und für die Öffentlichkeit zugänglich.8

The World City

Der Utopist ging gedanklich noch einen Schritt weiter. Er dachte über eine physische Manifestation der Informationen nach und arbeitete zusammen mit bekannten Architekten an Plänen für eine »World City«. Dessen Herz sollte das Mundaneum sein und unter anderem globale Universitäten oder ein Netzwerk von Museen beherbergen.9 Rund um das zentrale Mundaneum sollte ein Art Netzwerk fließender Informationen und Institutionen entstehen, welches durch Zweigstellen in der ganzen Welt unterstützt werden sollte. Die Aufgabe der Zweigstellen wäre die gewesen, Informationen des jeweiligen Landes zu verwalten, sie weiterzugeben und sie gegen Informationen aus der globalen Stadt einzutauschen.10

Inhaltliche Verlinkung

Alex Wright bewertet den Ansatz Otlets in mancher Hinsicht als anspruchsvoller als das World Wide Web selbst. Zwar wäre es heute unmöglich alle Informationen zu sammeln, doch das Web sei ein flacher Informationsraum ohne Organisationsprinzipien. Das macht es auf der einen Seite als offenes Medium aus, auf der anderen Seite sieht er genau das als Krankheit. Man käme etwas auf die Spur, Dinge verschwänden wieder, man müsse herausfinden, wem und was man vertrauen könne und es sei ohnehin unmöglich das große Ganze zu verstehen. Zudem fand Otlet sehr anspruchsvolle Wege Informationen zu verlinken, während Hyperlinks nur von A nach B führen, ohne dass man genau weiß in welcher Beziehung die Links zueinander stehen.
Otlet hatte dagegen eine ausgefeilte Syntax aus Zahlen und Zeichen, welche letztendlich zeigt, dass ein Dokument mit dem anderen übereinstimmt oder es in bestimmten Aspekten sogar erweitert. Aus Wrights Sicht besitzt das Web diese Art und Weise der Verbindungen noch nicht, obwohl viele Menschen daran arbeiten.11

Aus meiner Sicht ist die Vision Otlets ein wunderbarer Ansatz, um Informationen sammeln, organisieren und verbreiten zu können. Vor allem die globale Stadt, die sich letztendlich nur dem Fluss des menschlichen Wissens widmet, halte ich für großartig. Andererseits halte ich die Zentralisierung des Wissens aus heutiger Sicht nicht für den besten Ansatz. Dadurch, dass nur bestimmte Institutionen in den jeweiligen Ländern Informationen austauschen, wäre der freie Fluss sehr beschränkt. Man muss jedoch bedenken, dass ein digitaler Austausch wie heute natürlich noch nicht möglich war.

Mein Beitrag soll nur einen kurzen Einblick in Otlets Vision geben, um sein System besser verstehen zu können. Sollte es während meines Masters relevanter werden, möchte ich mich noch einmal detaillierter mit der tatsächlichen Systematik auseinandersetzen. Zudem werde ich meine Dokumentation durch einen kleinen Exkurs zu Otto Neurath erweitern. Er war österreichischer Design Thinker und an den Plänen der Stadt beteiligt.

Quellen
  1. Vgl. Wright, Alex, UX Brighton: »The Web That Wasn’t: Forgotten Forebears of the Internet«, Stand: 10.6.2014, URL: https://www.youtube.com/watch?v=CR6rwMw0EjI, TC: 00:14:34–00:15:14, abgerufen am 18.8.2017.
  2. Vgl. Ebd., TC: 00:13:43–00:14:34.
  3. Vgl. Tiny Big Story, in collaboration with Ikesu, Mundaneum: »Mundaneum – Small history of a big idea – Context EN«, Stand: 9.7.2015, URL: https://www.youtube.com/watch?v=flBcebZ7MCo, TC: 00:00:54–00:01:14, abgerufen am 18.8.2017.
  4. Vgl. Wright, Alex, UX Brighton: »The Web That Wasn’t: Forgotten Forebears of the Internet«, Stand: 10.6.2014, URL: https://www.youtube.com/watch?v=CR6rwMw0EjI, TC: 00:20:19–00:21:00, abgerufen am 18.8.2017.
  5. Vgl. Ebd., TC: 00:21:00–00:21:30.
  6. Vgl. Ebd., TC: 00:16:30–00:16:54.
  7. Vgl. Tiny Big Story, in collaboration with Ikesu, Mundaneum: »Mundaneum – Small history of a big idea – Context EN«, Stand: 9.7.2015, URL: https://www.youtube.com/watch?v=flBcebZ7MCo, TC: 00:01:15–00:01:29, abgerufen am 18.8.2017.
  8. Vgl. Ebd., TC: 00:01:59–00:02:26.
  9. Vgl. Wright, Alex, UX Brighton: »The Web That Wasn’t: Forgotten Forebears of the Internet«, Stand: 10.6.2014, URL: https://www.youtube.com/watch?v=CR6rwMw0EjI, TC: 00:17:14–00:18:40, abgerufen am 18.8.2017.
  10. Vgl. Ebd., TC: 00:18:40–00:19:20.
  11. Vgl. Ebd., TC: 00:24:57–00:27:00.