Paul Otlets Proto-Web

Paul Otlet | Mondotheque

Ursprünglich wollte ich mich mit Paul Otlet, dem Pionier des Informationsmanagements, nur weiter auseinandersetzen, wenn es für meinen Master relevanter wird. Im Zuge meiner Recherche über wichtige Vorreiter in Bezug auf Informationsräume oder spezieller das World Wide Web, fällt Paul Otlet zwar nicht mehr oder weniger ins Gewicht als zuvor. Nichtsdestotrotz möchte ich neue Erkenntnisse dokumentieren, auf welche ich inzwischen gestoßen bin.

Während ich mich mit der universellen Dezimalklassifikation, dem Mundaneum und seiner Vision der World City beschäftigt habe, entgingen mir weitere interessante Details sowie Pläne, die er für neue Technologien hatte. Da man über Paul Otlet sicher ganze Doktorarbeiten schreiben könnte, hoffe ich die Gedanken dieses Genies in dieser kurzen Form gerecht und vor allem korrekt wiederzugeben.

Karteikarten und Telegraphenmaschinen als Hypermedium

Durch die benutzten Karteikarten war es möglich, einzelne Informationen – ob bibliographisch oder inhaltlich – analytisch festzuhalten und größere Informationsbrocken konnten auf separaten Blättern manifestiert werden. Das nennt Otlet das »monographische Prinzip«.1 Warden Boyd Rayward, der erste Biograph Otlets, vergleicht das mit den Knoten und Textstücken in Hypertext2 und tatsächlich kann die Arbeit als Hypermedium bezeichnet werden. Alex Wright schreibt in einem Artikel, dass Otlets Proto-Web zwar auf einem Patchwork aus analogen Technologien wie Karteikarten und Telegraphenmaschinen beruhte, es jedoch die vernetzte Struktur des heutigen Webs vorwegnahm.3 Auch laut Rayward legt eine Untersuchung der Ideen und Verfahren, auf denen die Entwicklung der Datenbanken basieren, nahe, dass sie sehr ähnlich zu Hypertext-Systemen sind. Sie bestanden aus Knoten und Abschnitten und durch ein System aus Links und Navigationsvorrichtungen gelangte der Nutzer von bibliographischen Referenzen zu Volltext, Bildern oder Objekten.4

Informationen können so losgelöst vom Gesamtwerk des jeweiligen Autors gelesen und kombiniert werden. Rayward erläutert, dass Otlet diese Möglichkeit Wissen in einer flexiblen, enzyklopädischen Weise anzuordnen »Kodifizierung« nennt.5 Diese Form von »Datenbanken« war wichtig, um eine neue Art von »Bezugs- und Konsultationsfunktionen«6 zu schaffen. Zudem war Otlet dieses Herauslösen der Informationen wichtig, um dem Autor nicht »sklavisch durch das Labyrinth eines persönlichen Plans folgen zu müssen«7. Dem Leser sollte ermöglicht werden, wichtige Inhalte zu scannen und den uninteressanten fernzubleiben.8

Neben der Tatsache, dass es neue Möglichkeiten dafür geben sollte, Texte in maschinenlesbarer Form zu bearbeiten, so dass die ursprüngliche Integrität des Dokuments erhalten bleibt,9 hatte Otlet die Idee, Texte so verfügbar zu machen, dass sie »nach Belieben durchsucht, analysiert, abstrahiert und neu formatiert werden konnten«10. Das ist konzeptionell sehr nah an heutigen Textverarbeitungsprogrammen und auch eine Form von Computer hatte er sich schon damals vorgestellt.

Das Proto-Web

Als das Mundaneum mit seinen unzähligen Karten und Blättern mehr und mehr wuchs, suchte er nach Lösungen, die Masse an Papier in den Griff zu bekommen. Er begann daher, so Alex Wright, neue Technologien zu entwerfen. Darunter unter anderem ein Art Papiercomputer, der – ausgestattet mit Rädern und Speichen – Dokumente auf der Schreibtischoberfläche bewegte. Seine finale Antwort soll jedoch das Verschrotten von Papier insgesamt gewesen sein.11
Weiter dachte er über die Möglichkeit einer elektronischen Datenspeicherung nach, welche später in seine Vision eines »mechanischen, kollektiven Gehirns« mündete, das alle Informationen der Welt innerhalb eines globalen Telekommunikationsnetzes abrufbar machen sollte.12 Ein Ansatz war der, Informationen in einer neuen Form der Enzyklopädie – der Encyclopedia Microphotica Mundaneum – über Mikrofilme verfügbar zu machen.13 Diesen Weg der Informationsverbreitung findet man später beispielsweise auch bei Vannevar Bushs Idee des Memex.

Paul Otlet | Telekommunikation
Eine von Otlets Skizzen über Telekommunikation

Folgend sah er die Möglichkeit, auf dieses angedachte universelle Netzwerk für Informationen und Dokumentation via Multimedia-Arbeitsstationen zuzugreifen, die zu dieser Zeit jedoch noch nicht erfunden waren.14 Er hatte aber bereits die Vision, dass eine Maschine benötigt werde, die das Fernschreiben und -lesen ermöglichten, so dass Gelehrte auch zu Hause Dokumente lesen konnten – verbunden per Kabel wie das Telefon oder ohne Kabel wie das Radio.15 In Otlets medienübergreifendem Netz sollte Raum für die Partizipation des Lesers sein.
Ferner spekulierte er, dass der »Schreibtisch der Zukunft nur aus einem Bildschirm oder mehreren Bildschirmen sowie einem Telefon bestehen könnte, um Dokumente abrufen zu können«16. Auch die Tonübertragung mit einer Art Lautsprecher sowie die komplette Verschmelzung innerhalb einer Maschine sah er dabei vor.17 Alex Wright führt diese skizzierten Pläne für ein globales Netzwerk von Computern bzw. »elektrischen Teleskopen« weiter aus. So sollen die Millionen miteinander verknüpften Dokumente, Bilder, Audio- und Videodateien durchsuchbar sein. Über die Geräte könnte man zudem Nachrichten versenden, Dateien teilen und sich in sozialen Netzwerken versammeln. Das nannte er réseau mondiale, ein weltweites Netzwerk.18 In diesen Netzwerken könnte man teilnehmen, applaudieren, Ovationen geben und im Chor singen.19

Paul Otlet und das World Wide Web

Paul Otlets Visionen sind aus meiner Sicht unglaublich nah an der heutigen Welt. Schreibtische mit Bildschirmen, vernetzte Informationen und die Möglichkeit am gesamten Informationsraum teilzuhaben, hören sich für damalige Verhältnisse revolutionär an. Umso ungläubiger macht es mich zum einen, dass seine Arbeit über Jahrzehnte in der Versenkung verschwand und erst durch Rayward Ende der 60er Jahre wiederentdeckt wurde. Zum anderen stimmt es mich nachdenklich, dass das Potenzial dieser Entwicklungen und Gedanken erst so viel später erkannt wurde. Weiter finde ich es erstaunlich, dass das World Wide Web als universeller Informationsraum erst nach so langer Zeit entwickelt wurde. Sicher feilte man über Jahrzehnte an Informationssystemen, das Internet gab es sehr viel früher und auch Hypertext an sich war nicht Tim Berners-Lees Idee. Der technologische Fortschritt hielt sich vermutlich in Grenzen und gesellschaftlich war man eventuell noch nicht bereit. Nichtsdestotrotz sehe ich in Otlets Ideen grundsätzliche Gedanken des World Wide Webs sowie dessen fundamentale Struktur. Daher frage ich mich beispielsweise auch, wieso weniger an offenen als an geschlossenen Systemen gearbeitet wurde, obwohl das Internet schon Jahrzehnte vor dem Web erfunden wurde und wieso der Zugang zu Wissen so lange so sperrig war, obwohl bereits Otlet den einfachen Zugang zu Wissen als wichtigen Bestandteil sah.

Abschließend halte ich Otlet für ein wirkliches Genie, der mit seinen unzähligen Ideen großes in seinem Leben geleistet hat. Wie eingangs erwähnt könnte man sicher ganze Doktorarbeiten über ihn schreiben, da viele seiner Ideen revolutionär waren und man sich alleine mit seinen Publikationen zu Lebzeiten endlos beschäftigen hätte können. Gleichwohl möchte ich an dieser Stelle mit dem Visionär abschließen und mich nach meinem Master möglicherweise noch mit Alex Wrights Buch »Cataloging the World« auseinandersetzen.

Quellen
  1. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »Visions of Xanadu: Paul Otlet (1868–1944) and Hypertext« in: »Journal of the American society for information science«, Band 45, Ausgabe 4, S. 235–250, Stand: Mai 1994, URL: https://pdfs.semanticscholar.org/48f4/51ecb5d5241a7780bf07ac15b4e5699c5c41.pdf, S. 238, abgerufen am 28.9.2017.
  2. Vgl. Ebd.
  3. Vgl. Wright Alex: »The web that time forgot«, Stand: 17.6.2008, URL: https://www.nytimes.com/2008/06/17/health/17iht-17mund.13760031.html, Absatz 4, abgerufen am 30.9.2017.
  4. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »Visions of Xanadu: Paul Otlet (1868–1944) and Hypertext« in: »Journal of the American society for information science«, Band 45, Ausgabe 4, S. 235–250, Stand: Mai 1994, URL: https://pdfs.semanticscholar.org/48f4/51ecb5d5241a7780bf07ac15b4e5699c5c41.pdf, S. 240, abgerufen am 28.9.2017.
  5. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »The legacy of Paul Otlet, pioneer of information science« in: »The Australian Library Journal«, Volume 41, No 2, S. 90–102, Stand: Mai 1992, Online veröffentlicht: 28.10.2013, URL: https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/00049670.1992.10755606, S. 97, abgerufen am 28.9.2017.
  6. Rayward, Warden Boyd: »Visions of Xanadu: Paul Otlet (1868–1944) and Hypertext« in: »Journal of the American society for information science«, Band 45, Ausgabe 4, S. 235–250, Stand: Mai 1994, URL: https://pdfs.semanticscholar.org/48f4/51ecb5d5241a7780bf07ac15b4e5699c5c41.pdf, S. 240, abgerufen am 28.9.2017.
  7. Ebd.
  8. Vgl. Ebd.
  9. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »The legacy of Paul Otlet, pioneer of information science« in: »The Australian Library Journal«, Volume 41, No 2, S. 90–102, Stand: Mai 1992, Online veröffentlicht: 28.10.2013, URL: https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/00049670.1992.10755606, S. 98, abgerufen am 28.9.2017.
  10. Ebd.
  11. Vgl. Wright, Alex: »The web that time forgot«, Stand: 17.6.2008, URL: https://www.nytimes.com/2008/06/17/health/17iht-17mund.13760031.html, Absatz 15, abgerufen am 30.9.2017.
  12. Vgl. Ebd., Absatz 16.
  13. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »The legacy of Paul Otlet, pioneer of information science« in: »The Australian Library Journal«, Volume 41, No 2, S. 90–102, Stand: Mai 1992, Online veröffentlicht: 28.10.2013, URL: https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/00049670.1992.10755606, S. 99, abgerufen am 28.9.2017.
  14. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »Visions of Xanadu: Paul Otlet (1868–1944) and Hypertext« in: »Journal of the American society for information science«, Band 45, Ausgabe 4, S. 235–250, Stand: Mai 1994, URL: https://pdfs.semanticscholar.org/48f4/51ecb5d5241a7780bf07ac15b4e5699c5c41.pdf, S. 235, abgerufen am 28.9.2017.
  15. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »The legacy of Paul Otlet, pioneer of information science« in: »The Australian Library Journal«, Volume 41, No 2, S. 90–102, Stand: Mai 1992, Online veröffentlicht: 28.10.2013, URL: https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/00049670.1992.10755606, S. 98, abgerufen am 28.9.2017.
  16. Ebd., S. 99.
  17. Vgl. Ebd.
  18. Vgl. Wright, Alex: »The web that time forgot«, Stand: 17.6.2008, URL: https://www.nytimes.com/2008/06/17/health/17iht-17mund.13760031.html, Absatz 2, abgerufen am 30.9.2017.
  19. Vgl. Ebd., Absatz 24.