Von der SciFi-Vision zur Wissenschaft

H. G. Wells ist ein englischer Schriftsteller und träumte von einem »World Brain«. In seiner gleichnamigen Sammlung aus Essays und Talks aus den Jahren 1936–1938 beschreibt er seine Vision einer neuen, freien, synthetischen, autoritativen und permanenten Welt-Enzyklopädie.1

»World Brain« von H. G. Wells aus dem Jahr 1938I

Laut Alex Wright glaubt er daran, dass der Schlüssel Konflikte zwischen Ländern zu lösen darin liegt, den freien Fluss von Informationen zu ermöglichen. So käme es nämlich zu einem Ungleichgewicht, welches mit einem Art universellen Verständnis, wie die Welt funktioniert, wieder ausgeglichen wird.2
Weiter zitiert er H. G. Wells, dass das gesamte menschliche Wissen für jedes Individuum verfügbar gemacht werden könnte und das wahrscheinlich schon bald so sein wird. Zwar wurde Information mit dem Telefon oder Telegraf nur elektronisch und nicht digital, womit jedoch möglicherweise eine globale Enzyklopädie und ein Netzwerk der Wissensgenerierung geschaffen werden könnte.3 Alex Wright hebt hervor, dass Wells in seinen Beschreibungen eine Reihe von organischen Metaphern verwendet. So spricht er beispielsweise von einer Enzyklopädie mit zahlreichen Tentakeln und Ganglien.4

Eine erste Vorstellung war jedoch eine Welt-Enzyklopädie, die aus einer Reihe von Bänden besteht und im eigenen Haus oder zumindest in Häusern oder Bibliotheken in der Nähe gelagert wären und die auf dem aktuellen Stand gehalten werden würden. Die Inhalte wären dabei sehr sorgfältig ausgewählt.5

Mit seiner SciFi-Vision hielt Wells sogar einen Vortrag auf dem Weltkongress der universellen Dokumentation, welcher unter anderem das Ziel hatte, Ideen und Methoden zur Umsetzung des »World Brains« zu diskutieren.6
Sowohl H. G. Wells als auch Paul Otlet waren bereits 1933 bei diesem Kongress, jedoch ist unklar, ob sich die beiden dort getroffen hatten. Ähnlich wie Wells spricht jedoch auch Otlet von einem Schreibtisch der Zukunft, der ausgestattet mit einem Bildschirm sowie möglicherweise einem Telefon zulässt, Dokumente automatisch abzurufen.7

Weiter scheint der Autor Arthur C. Clarke von Wells inspiriert worden zu sein. So sagt er in »Profiles of the Future« vorher, dass Wells World Brain in zwei Schritten stattfinden würde. Der erste würde der Bau einer Welt-Bibliothek sein, welche für Jedermann per Computer-Terminal von zu Hause zugänglich sein würde. Diese Phase 1 sagte er für das Jahr 2000 voraus. In der zweiten Phase könnten Menschen mit dem World Brain als superintelligente AI interagieren und mit ihr diverse Probleme der Welt lösen. Die Welt-Bibliothek wäre dabei ein Teil des World Brains, welches 2010 komplett wäre.8 Auch Eugene Garfield konstatiert Wells Vision eine großartige Zukunft und prophezeit, dass der Science Citation Index ein Vorläufer dessen ist.9 Brian R. Gaines sieht sogar das World Wide Web als Erweiterung des World Brains, auf das Menschen nun mit PCs zugreifen konnten.10

Wie schon in meiner Ausführung über Paul Otlet hervorgebracht, finde ich es erstaunlich, wie früh schon an Konzepten und Gedankenexperimenten für einen universellen Informationsraums gearbeitet wurde. Umso deutlicher wird mir, dass der Status Quo des Webs noch lange nicht das erreichte Ziel ist. Ich habe bereits Teile von Ted Nelsons Kritik an der Umsetzung des World Wide Webs angeführt und auch Alex Wright sieht Otlets Vision in mancher Hinsicht als anspruchsvoller als das World Wide Web selbst. Zwar ist das Web tief verankert in unserem Alltag, nichtsdestotrotz ist es erst 30 Jahre alt. Da das in der Geschichte nur ein winziger Zeitraum ist, ist es tatsächlich fraglich, ob das Web in seiner heutigen Form überleben kann – selbst, wenn es unglaublich ist, dass nicht. Ein weiteres amüsantes Detail ist, dass Wells SciFi-Vision in der Welt der Wissenschaft angekommen ist und sogar als Redner Platz auf dem genannten Kongress gefunden hat.

H. G. Wells wird mich in meiner Recherche vermutlich nicht weiter voranbringen, seine Idee wird jedoch immerhin einen kleinen Nebenzweig meiner Dokumentation darstellen. Des Weiteren motiviert mich diese Auseinandersetzung, Arthur C. Clarkes Buch zu lesen, da ich den Autor schon durch »2001: Odyssee im Weltraum« zu schätzen gelernt habe.

Quellen
  1. Vgl. »World Brain« in: »Wikipedia, the free encyclopedia«, Stand: 22.10.2017, URL: https://en.wikipedia.org/wiki/World_Brain, abgerufen am 10.11.2017.
  2. Vgl. Wright, Alex, UX Brighton: »The Web That Wasn’t: Forgotten Forebears of the Internet«, Stand: 10.6.2014, URL: https://www.youtube.com/watch?v=CR6rwMw0EjI, TC: 00:10:12–00:11:23, abgerufen am 18.8.2017.
  3. Vgl. Ebd., TC: 00:11:24–00:12:06.
  4. Vgl. Ebd., TC: 00:12:07–00:13:33.
  5. Vgl. »World Brain« in: »Wikipedia, the free encyclopedia«, Stand: 22.10.2017, URL: https://en.wikipedia.org/wiki/World_Brain, abgerufen am 10.11.2017.
  6. Vgl. Ebd.
  7. Vgl. Rayward, Warden Boyd: »The legacy of Paul Otlet, pioneer of information science« in: »The Australian Library Journal«, Volume 41, No 2, S. 90–102, Stand: Mai 1992, Online veröffentlicht: 28.10.2013, URL: https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/00049670.1992.10755606, S. 99, abgerufen am 28.9.2017.
  8. Vgl. »World Brain« in: »Wikipedia, the free encyclopedia«, Stand: 22.10.2017, URL: https://en.wikipedia.org/wiki/World_Brain, abgerufen am 10.11.2017.
  9. Vgl. Ebd.
  10. Vgl. Ebd.
Abbildungen
  1. H.G. Wells: »Cover of the book World Brain by H. G. Wells. Published by Methuen & Co Ltd, London, 1938.«, Stand: 26.2.2015, via Wikimedia Commons, abgerufen am 10.11.2017.