Der Memex als Ergänzung des Gedächtnis

Nachdem ich in meinen Beiträgen »Assoziative Verlinkungen und Generierung von Wissen« und »Wir wie vielleicht denken« dem fiktiven Schreibtisch von Vannevar Bush nachgegangen bin und dabei dritte Quellen verwendet hatte, möchte ich mich Bushs ursprünglichen Essay »As We May Think« widmen, der 1945 im The Atlantic Monthly veröffentlicht wurde.

Die Grundzüge des Memex hatte ich bereits verstanden. In seinem Essay erläutert er sein Arbeitsgerät detailliert, ordnet seine Vorstellung vorab in den zeitlichen Kontext ein und spricht über vorherrschende Bedürfnisse und mögliche Anwendungen.

Bushs Vision

Wie schon bekannt, ist Bush davon überzeugt, dass der Geist im Gegensatz bisheriger Indizierungssysteme, die alphabetisch oder numerisch aufgebaut sind, assoziativ arbeitet. Dabei ist es laut ihm die »Künstlichkeit der Indizierungssysteme, die es erschwert, Zugang zu den Aufzeichnungen zu bekommen«1. Gleichermaßen ist er der Auffassung, dass die Auswahl durch Assoziation mechanisiert werden müsse.2

Vannevar Bush 1940
Vannevar Bush 1940I

Wie Paul Otlet geht es ihm – unabhängig der abweichenden Visionen – offensichtlich darum, den Zugang zur Masse an menschlichem Wissen zu erleichtern und es sinnvoll zu verknüpfen. In seinem Essay warnt er davor, dass die Menschheit nach Errichtung einer komplizierten Zivilisation auf halbem Wege steckenbleibt, weil die Erinnerungsfähigkeit überlastet ist. Vielmehr bevorzugt er das Privileg, Dinge zu vergessen, die man nicht benötigt, ohne zu befürchten, dass sie sich nicht wiederfinden lassen.3 Maschinen sollen demnach der Auslagerung unseres Wissens dienen und jederzeit zugänglich sein. Wie mehrmals in meiner Dokumentation erwähnt, bewegen wir uns zunehmend in den Status, in dem wir ausschließlich wissen müssen, wo wir Informationen abrufen können. Das reine Auswendiglernen von Daten ist längst überflüssig. Er selbst bezeichnet den Memex als »persönliche Ergänzung zum Gedächtnis«4.

Bevor ich an späterer Stelle Hartmut Winklers Kritik an Bushs ursprünglicher Problemstellung und dem abweichendem Entwurf mit aufnehmen möchte, gehe ich auf Bushs detaillierte Beschreibung des Memex sowie dessen Nutzen ein.

Der Aufbau des Memex

Auf zwei durchscheinenden Schirmen wird das Material projiziert, welches entweder selbst erstellt oder als fertiger Mikrofilm erworben werden kann; so z. B. Bücher, Bilder, Zeitungen etc. Das Arbeitsgerät wird mit Hebeln und Knöpfen bedient und Fotografien können mittels Trockenfotografie angefertigt werden. Mithilfe der Hebel werden Aufzeichnungen in verschiedenen Geschwindigkeiten durchgeblättert und mit den Knöpfen wird unter anderem ein Code eingegeben, der den direkten Zugriff auf bestimmtes Material zulässt oder das Inhaltsverzeichnis anzeigt.5

Das Kernstück des Memex sieht Bush in einem Vorgang, der zwei Informationen miteinander verknüpft. Nebeneinanderliegende Materialien werden per Knopfdruck verbunden, der Pfad wird benannt und ins Codebuch mit aufgenommen. Die Codes sind auf Codeflächen am unteren Bildschirmrand angebracht; wird der entsprechende Knopf gedrückt, können Informationen wieder abgerufen werden. Die Verbindung wird dabei durch nicht sichtbare Punkte, die für Fotozellen lesbar sind, ermöglicht.6

Beispielhaftes Gerät zum Lesen von Mikrofilmen
Beispielhaftes Gerät zum Lesen von MikrofilmenII

Der Memex als unterstützendes Arbeitsgerät

Durch diese Vorgehensweise können ganze Pfade und Seitenpfade für ein bestimmtes Thema erstellt und abgerufen werden.7 Ein wesentlicher Bestandteil seiner Vorstellung ist der, dass Pfade durch Abfotografieren und erneute Integration weitergegeben und somit von anderen Menschen abgerufen werden können.8 Er stellt sich eine völlig neue Art von Enzyklopädie vor, welche bereits mit einem Netz assoziativer Pfade versehen ist. Zudem sieht er den Vorteil darin, dass z. B. ein Meister seinen Schülern nicht nur Aufzeichnungen, sondern ein gesamtes Gerüst, mit dessen Hilfe sie entstanden sind, hinterlassen würde. Ein weiteres Beispiel ist das eines Arztes, welcher bei der Behandlung eines Patienten den Pfad einer ähnlichen Krankengeschichte aufrufen und somit schneller zum Ergebnis kommen könnte.9 Aus seiner Sicht kann auf diese Weise »die Wissenschaft der Menschheit Werkzeuge zur Produktion, Speicherung und Nutzung ihrer Aufzeichnungen liefern«10.

Hartmut Winklers Kritik

Als Ausgangsproblem sieht Bush aus meiner Sicht Wissenschaftler, welchen es aufgrund der Masse schwerfällt, Forschungsergebnisse anderer sinnvoll zu nutzen.11 Hartmut Winkler, welcher in »form diskurs« Bushs Essay kommentiert, sieht in Bushs Aussagen ein grundsätzliches Kommunikationsproblem, auf das sich Bush beruft. Seine These ist dabei die, »dass der Memex zwar den Austausch mit einzelnen Kollegen unterstützt, das eigentliche Problem – die Kommunikation mit dem Pool des Wissens insgesamt – aber nahezu unberührt läßt«12. Daher klaffen aus seiner Sicht das Ausgangsproblem Informationsüberflutung und der Memex als technische Antwort weit auseinander. Zudem merkt er an, dass das eigentliche Problem der Menge, so wie es Bush sagt, nicht mit mechanischer Selektion oder assoziativer Speicherung zu lösen ist.13

Meiner Auffassung nach geht es Bush erstmals nicht um die generelle Kommunikation zwischen Wissenschaftlern. Meinem Verständnis nach geht es vielmehr darum, dass man seinen eigenen Pool des persönlichen Wissens manifestiert und mit anderen, fremden Quellen in Verbindung setzen kann. Eigene Gedankenwege werden in Pfaden untergebracht und somit jederzeit abrufbar. Das Teilen der Pfade ist aus meiner Sicht zwar wesentlich, aber für mein grundsätzliches Verständnis zunächst nicht nötig. Auch die Erstellung einer völlig neuen Art der Enzyklopädie unterstreicht natürlich den Ansatz, menschliches Wissen generell verbinden zu wollen. Wie ich den Text verstehe, wäre das jedoch schon der nächste logische und mögliche Schritt, nachdem das Arbeitsgerät im Einsatz wäre.

Abschließend war es für mich nun wichtig, den originalen Essay »As We May Think« zu lesen, um die Denkweise Bushs noch besser verstehen zu können. Zudem sind mir die Funktionsweise und die Möglichkeiten des Memex noch bewusster.
An dieser Stelle möchte ich meine Nachforschungen über Vannevar Bush zudem beenden, da sein Essay und seine Vision letztendlich nur einen kleinen, theoretischen Part in meiner Master-Arbeit einnehmen werden.

Quellen
  1. Bush, Vannevar: »As We May Think«, Stand: Juli 1945, URL: http://web.mit.edu/STS.035/www/PDFs/think.pdf, Seite 14, abgerufen am 29.9.2017.
  2. Vgl. Ebd.
  3. Vgl. Ebd., S. 19.
  4. Ebd., S. 15.
  5. Vgl. Ebd.
  6. Vgl. Ebd., S. 16.
  7. Vgl. Ebd.
  8. Vgl. Ebd.
  9. Vgl. Ebd., S. 17.
  10. Ebd.
  11. Vgl. Ebd., S. 3.
  12. Winkler, Hartmut: »Vannevar Bush: As We May Think« in: FormDiskurs. Nr. 2, I/1997, S. 136–147, Stand: 1997, URL: http://homepages.uni-paderborn.de/winkler/bush_d.pdf, Seite 146, abgerufen am 29.9.2017.
  13. Vgl. Ebd.
  14. Abbildungen
    1. US Department of Energy: »Vannevar Bush at Berkeley (29 March 1940)«, Stand: 11.3.2016, via Wikimedia Commons, abgerufen am 30.9.2017.
    2. Unbekannt: »Microfilm reader for articles and daily papers, Haifa University library, the 1980s«, Stand: 7.3.2013, via Wikimedia Commons, abgerufen am 30.9.2017, Lizenz: CC BY-SA 3.0.